The Art of (Dis)Appearing
Autor:
Dr. Harald Kubiena
Niedergelassener Facharzt für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie, Wien
E-Mail: office@drkubiena.at
Im Folgenden werden Eindrückevoneinem speziellen Bereich humanitären Tätigseins vermittelt –der Wiederherstellung von Noma-assoziierten Gesichtsdefekten von Kindern in Westafrika. Die Lesenden erhalten so Einblick in einen rekonstruktiv-chirurgischen „High end“-Bereich genauso wie in persönliche Erfahrungswelten und Betrachtungen, kurzum in den „operating mode“ des Autors an einem der „low ends“ dieser Welt.
Bei der als Noma (lat. cancrum oris) bezeichneten Krankheit handelt es sich um eine stadienhaft ablaufende gangränöse Gesichtserkrankung, die vorwiegend Kinder in Westafrika befällt und in mehr als drei Viertel der Fälle tödlich verläuft. Noma beginntals akute nekrotisierende Gingivitis und breitet sich unbehandelt über sämtliche Teile der befallenen Gesichtshälte oder auch zentrofazial, inmitten des Gesichts, aus. Dabei kommt es zum Absterben von Schleim- und Wangenhaut sowie zu Muskel-, Knorpel und Knochengewebsnekrosen des heranwachsenden Gesichts. Neben der zum Teil horrenden Defektsituation mit erheblichen funktionellen Schäden (Auge, Nase, Mund, Mimik) führen Vernarbungen und Verknöcherungen zwischen deformiertem Ober- und Unterkiefer zu einer für die betroffenen Kinder höchst belastenden Kiefersperre („Trismus“).
Abb. 1: Typische Nomadefektsituation mit begleitender knöcherner Kiefersperre („Trismus“)
Ziel einer operativen Behandlung ist, je nach Defektsituation, eine größtmögliche gleichzeitige Wiederherstellung von Substanz und Funktion. Dabei stellt das jeweilige Ausmaß der Kiefersperre eine Art Schlüsselstelle dar. Neben der erheblichen,fastunermesslichen psychosozialen Belastung für die kleinen Patient:innen infolge der Stigmatisierung bedeutet eine unbehandelte oder nach operativer Weichteilrekonstruktion wiederkehrende Kiefersperre auch eine Gefahr für Atem- und Speisewege – Aspirationen, Infekte und erhebliche Einschränkungen in der Nahrungsaufnahme haben großen Einfluss auf die Entwicklung und das Überleben dieser Patient:innen.
Es ist immer wieder erschreckend, in welch großem Umfang sich ein initialer Weichteildefekt nach vollständigem Lösen von knöchernen Fusionen, Vernarbungen und dem Anbringen eines (intra- oder extraoralen) Fixateurs zur Sicherstellung der Wundheilung und der operativ erzielten Mundöffnung auftut. Der wohlgemeinte Ansatz,lediglicheine Weichteilrekonstruktion durchzuführen und die Kiefersperre nicht zu behandeln, kann dabei infolge des kritischen Verkleinerns des Zuführungsweges für die Nahrung eine erhebliche Verschlechterung für die Nahrungsaufnahme wie auch für nachfolgende operative Eingriffe bedeuten.
An dieser Stelle wird deutlich, dass man hier in der Wiederherstellung von Wangen- und Mundschleimhaut, Lippen und der Behebung von periorbitalen und perinasalen Weichteil- und Knochendefekten nicht selten an Grenzen stößt.
Der humanitäre Raum
Um den Raumauszuleuchten, in welchem dieses und andere derartige humanitäre Engagements entstehen, sich entfalten und bestehen können,werden im Folgenden fünf Perspektiven eröffnet, welche aus der Sicht des Autors wesentliche kreative Spannungsfelder darstellen.
1. Individuum & Institution
Vielleicht wird gerade im humanitären Kontext das Verhältnis von Einzelpersonen zu Organisationen in besonderer Weise gefordert und gefördert: Was unter Extremsituationen, in Grenz- oder Randgebieten funktioniert, speist sich meist aus einem wechselseitigen Abgestimmtsein über viele Jahre. Gerade in der Behandlung von Kindern in mehreren Folgeeingriffen braucht es dieses Bewusstsein und einen weiten Blick auf die Tragfähigkeit und die Pflege von derartigen Beziehungen.
Damit in den von Krisen, Putschen und Kriegen gebeutelten Regionen wie dem Sahel überhaupt erst medizinische Hilfskräfte tätig werden können, braucht es einen institutionellen wie organisatorischen Rahmen, ein juristisches und finanzielles Fundament, Verhaltensregeln und natürlich ein festes Dach über dem Kopf – und mehr und mehr auch Stacheldraht, Zugangssperren und Sicherheitskräfte.
Aus eigener Erfahrung über die Jahre soll hier dem Typus des Einsatzarztes durchaus selbstkritisch und augenzwinkernd zwar ein hohes Maß an Einsatz-, Umsetzungs- und Begeisterungskraft, aber auchein nicht unbeträchtliches Maß an Individualisierungs-, Gestaltungs- und Freiheitsbedürfnis attestiert werden.
Dass es auch oftmals Einzelpersonen waren, die in der Glut ihrer Begeisterung die Pfeiler für sie selbst und Generationen überdauernde Institutionen schmiedeten,dafür gibt esgerade in der Geschichte von medizinischen Hilfsinstitutionen unzählige berühmte Beispiele. Und immerwieder sind es auch Einzelpersonen, die Geschichten erzählen und humanitärem Helfen ein Gesicht geben – Facebook und Fundraiser wissen darum.
Abb. 2: (a) Intraoperativer Situs nach Lösung von extraartikulärer Ankylose, kontralateraler Coronoidektomie und Anlegen eines intraoralen Fixateurs, (b) Submental-Flap zur Wiederherstellung von outer und innerlining mit maxillomandibulärer Interposition der Lappenspitze, (c) Ausreichende Mundöffnung, intra- und periorale Weichteilrekonstruktion, Fixateur und Botulinumtoxin-Behandlung der linksseitigen Kaumuskulatur
Doch abseits von Gründungsmythen und Sichtbarmachung steht im Kontext von Auslandseinsätzen oftmals die friktionsreiche Banalität des Alles-unter-einen-Hut-Bringens auf der Tagesordnung: Familienurlaube und -zuständigkeiten, Dienstpläne und Vertretungen müssen wieder und wieder mit dem „institutionellen“ Umfeld abgestimmt werden, wie auch die Beantragung von Arbeitsgenehmigungen, Visa und die Reiseplanung erst im Modus einer kultivierten, toleranzreichen Abstimmung des Einzelnen mit all seinen Umfeldern (Abteilung, Ordination, Familie, Hilfsorganisation) die erforderliche Energie, die Kräfte für den eigentlichen Einsatz vor Ort zu bewahren vermögen.
Letztlich ist es die Ausrichtung auf die Menschen vor Ort innerhalb ihrer jeweiligen sozialen Situation und ihrer Bedürfnisse, die aus der Spannung zwischen dem Einzelnen und seinen jeweiligen Einrichtungen ein „Wir“werden lässt– womitin dem vielschichtigen Miteinander all die Anstrengungen zu einer sinnhaften, wirksamen Wirklichkeit werden und letztlich all das Wollen vieler Beteiligter immerwieder gelingen lassen.
2. Limits
Das Ausloten, Erweitern und Akzeptieren von Grenzen ist untrennbar mit humanitärem Engagement verbunden. Vielleicht ist es oftmals genau diese Grenzerfahrung, aus welcher die Kraft zur Bewältigung der eigentlichen Aufgaben erwächst.
Zur Orientierung ist wie sooft im humanitären Bereich ein Rundumblick hilfreich, der nebenden eigenen Limits auch die der Mitwirkenden im Auge behält – ganz abgesehen von jenen, auf die sich alles hier ausrichtet: die Patient:innen.
Auf dieser obersten Ebene der Aufmerksamkeit findet in der hier geschilderten Versorgungseinrichtung ein frühzeitiger und laufender multiprofessioneller Diskurs zu Zumutbarkeit und Machbarkeit für diese Kinder statt. Lokale Sozialarbeiter:innen, Psycholog:innen wie auch Kindergärtner:innen und Pflegekräfte bereiten hier über Jahre mit großer Beständigkeit ein verlässliches Fundament aus Kompetenz und einen Vertrauensraum für die oftmals schwer belasteten Kinder.
Darüber hinaus geht in der Entwicklung von Konzepten zur Behandlung der limitierten Mundöffnung und der ausgedehnten Knochen- und Weichteildefekte die GeschichtederLimits mit einer GeschichtederMöglichkeiten einher.
Abb. 3: Mikrochirurgische Rekonstruktion in zwei Teams als Errungenschaft über viele Jahre (freier (osteokutaner) Paraskapularlappen als Standardtransfer bei ausgedehnten Nomadefekten)
Dabei hat der zunehmende Einsatz von mikrovaskulären Techniken keineswegs jenen von ausgedehnten lokoregionären Lappenplastiken abgelöst, sondern vielmehr erweitert. Und dies mit gutem Grund:
Das Erarbeiten und Etablieren von Behandlungskonzepten im humanitären Bereich hat hier nämlich stets im Hinblick auf eine weitreichende überregionale Verbreitung und in diesem Fallim Hinblick auf die Einbettung in die jeweiligen Versorgungslandschaften Westafrikas stattzufinden.
Dass hier die Behandlung der Patient:innen Hand in Hand mit der Heranbildung von medizinischen Fachkräften einherzugehen hat, ist in gleichem Maße naheliegend wie essenziell. Wie es auch das Im-Auge-Behalten der Limits eben dieser Auszubildenden und gleichzeitig das Achten und Reflektieren der eigenen Grenzen ist.
3. Risiko
Westafrika verzeichnete in den letzten Jahren eine Vielzahl heftiger mit Waffen ausgetragener Konflikte – Militärputsche, islamistischer Terror, Kidnapping von Frauen und Kindern greifen in besorgniserregendem Ausmaß um sich und führen zu einer hochgradigen Destabilisierung vorallem der SahelRegion.
Zahlreiche humanitäre Hilfsorganisationen haben sich mittlerweile aus der Region zurückgezogen oder ihre Präsenz deutlich reduziert. Es ist vielerorts einfach zu unübersichtlich, zu instabil und zugefährlich geworden.
Nun lassen sich auch bei diesem Thema, wo gegenüber unbeeinflussbaren, zum Teilunkalkulierbaren Sicherheitsrisiken oder auch in Bezug auf eigenegesundheitliche Risiken Vorkehrungen getroffen werden müssen, die vielleicht damit einhergehenden Emotionen leichter einordnen oder managen, wenn man sich jene Risiken vor Augen führt, welchen die Patient:innen selbst ausgesetzt sind: rund um den eigentlichen operativen Eingriff wie aber auch durch einen allzulangen Aufschub der Behandlung und darüberhinaus und – insbesondere bei Noma-patient:innen – im nicht seltenen Fall von Komplikationen.
Gerade in der prozesshaften, mehrzeitigen rekonstruktiven Behandlung von Noma lauert für diese Kinder gleich eine Vielzahl von Risiken, die unmittelbar mit der Behandlung verknüpft sind. Hat es beispielsweise ein 4-jähriges Mädchen völlig unterernährt bis zur Aufnahme in das NANINomaCentre in Abuja geschafft, hat es also die Akutphase weit draußen, in den entlegenen nördlichen Landesteilen Nigerias, „irgendwie“ überlebt, so steht diesem Kind nach entsprechender Wiederherstellung eines adäquaten Ernährungszustandes noch ein mitunter langer, von mehreren Eingriffen gesäumter Weg bevor. Und das nicht nur innerhalb der Klinik: Jeder Rücktransfer ins Heimatdorf, jedes Behandlungsintervall ist verbunden mit Phasen erneuter Unterernährung, mit neuen Infektionskrankheiten oder der Gefahr, Opfer von Gewalthandlungen zu werden. Umstände, die von Anfang an in die Behandlungsplanung miteinbezogen werden, um das Risikogemenge für diese Kinder im Auge zu behalten.
Über die vielen Jahre ist mit der Errichtung hochentwickelter Versorgungszentren in Niger, Nigeriaund Guinea-Bissauwohl gerade in Hinsicht auf dieAus- und Weiterbildung lokaler pädiatrischer Anästhesieteams (ärztlich und nichtärztlich) ein Meilenstein errichtet worden.
Narkoseeinleitung, fiberoptische Intubation und das Management schwieriger Atemwege auch im postoperativen Bereich haben ausgedehnte mikrovaskuläre Rekonstruktionen über viele Operationsstunden erstmöglich gemacht.
Und wer als ausführender Nomaoperateur in einem westafrikanischen Operationssaal steht und sich den mitunter grotesken knöchernen Fusionen und Vernarbungen an einem kindlichen Gesichtsschädel gegenübersieht, wird in diesem Setting über die Jahre einen Umgang mit diesem wohl riskantesten Abschnitt derartiger Eingriffe finden (müssen).
Aus der Perspektive des Autors hat sich über die Jahre jedenfalls das Wissen gefestigt, dass Erfahrung, vorallem geteilte Erfahrung, den Umgang mit erhöhtem Risiko erleichtert. Und wenn es auch nur das Aussprechen, das „Mit-Teilen“ ist, so wiegt die Belastung dadurch weniger schwer.
4. Das Paradoxe
Das Paradoxe begegnet einem zu Hause ja meist im Vorbeigehen, man wundert sich, schüttelt den Kopf und geht weiter. Das Paradoxe allerdings, wie es hier im humanitären Raum vorgestellt wird, ist im Gegensatz dazu etwas, das bleibt, das auf rationaler Ebene unauflösbar und mitunter nur schwer aushaltbar dazugehört und immerwieder ausgehalten werden muss.
Dass man sich beispielsweise im Vorfeld der eigentlichen Anstrengungen im Zusammenhang mit einem geplanten Operationseinsatz an der Belastungsgrenze oft stundenlang bei Ämternanstellenmuss und sich vor fremdländischen Behörden, oft überraschend geschlossenen Ämtern und undurchsichtigen Institutionen auszuweisen, wieder und wieder zu erklären, zu legitimieren oder um Erlaubnis anzusuchen hat, gehört dabei noch zu den leichteren Herausforderungen.
Ein Sinnbild – aufgenommen in einer Spielecke des Schulraumes in der Nomaklinik Niamey
Auf einer sandigen Piste während der notfallmäßigen Einsatzfahrt mit einem örtlichen Rettungswagen von einem Jungen auf einem alten Fahrrad überholt zu werden oder während eines Einsatzes in einer Region extremster Unternährung mit Online-Marketing für Fettabsaugungen in der nahegelegenen Landeshauptstadt konfrontiert zu werden kann manch einer nicht so ohne Weiteres abschütteln.
In der einschlägigen Literatur jedenfalls finden sich unzählige Berichte und Betrachtungen über diese und ähnliche Phänomene; sei es im Kleinen, Individuellen oder im Großen, in einem meist postkolonialistisch eingeengten Blick auf ganze Länder, Regierungen oder Regionen: Den meisten dieser Berichte gemeinsam ist der Umstand, dass es sich um Berichte von außen handelt und somit vielmehr „über die“ als „von den“ Menschen selbst erzählt wird.
Gerade im Bereich der plastischen Gesichtschirurgie wird man als Arzt in beiden Welten, jener des Schreckens angesichts der entstellten, halbverhungerten Kindergesichter Westafrikas und der Welt der „Schönen und Reichen“, oft nach der Vereinbarkeit dieser beiden Welten gefragt.
Doch begegnet derartig Befragten hier wohl erst nach langjährigem Austesten, Ausloten und vorallem Aushalten dieses Spannungsfeldes das Paradoxe auch als kreative Gelegenheit, welche zu einem Hineinwachsen in eine spezielle Sichtweise auf die Dinge führt. Manch vorschnelle Antwort spart sich hier dann auf, bleibt hinter dem Aushalten von Fragen nur lange genug zurück, um womöglich in einen Tätigkeitsmodus, eine Gangart, in einen „operating mode“ zu führen, der beide Welten miteinander verbinden, sie überbrücken und versöhnen will – vielleicht müsste man die Patient:innen dieser Kolleg:innen befragen: hier und dort.
Es ergeben sich aber darüberhinaus in der Zusammenführung und der Integration von medizinischen rekonstruktiven Erfahrungen nicht bloß Synergien, sondern mitunter sogar konkrete Indikationserweiterungen oder neue handfeste Anwendungsbereiche:
So konnte beispielsweise in einer ersten Serie von Nomapatient:innen durch den Einsatz von Botulinumtoxin in der Behandlung der unilateral intakten und eine hartnäckige Wiederkehr der Kiefersperre verursachenden Kaumuskulatur ein deutlicher Fortschritt erzielt und damit auch die postoperative Einheilung von großen (mikrovaskulären) Gewebetransfers positiv beeinflusst werden.
Dass es auch in umgekehrter Weise zu einem unmittelbaren Wissens- und Erfahrungstransfer kommt, können neben den jeweiligen Operateur:innen bestimmt auch zahlreiche zu Hause behandelte Patient:innen bestätigen.
5. Zeit & Raum
Dass im Zusammenhang mit humanitären Einsätzen oft in kurzer Zeit Zeitzonen und Kontinentalgrenzen überwunden werden müssen, liegt in der Natur der Sache. Dass dabei allerdings auch ein oftmals rasanter und kontrastreicher Wechsel von völlig unterschiedlichen Zeitwahrnehmungs- und Lebenswirklichkeitsräumen einhergeht und neben klimatischen und kulturellen Unterschieden in kürzester Zeit auch all die damit verbundenen Eindrücke und Erlebnisse geordnet, mitgeteilt und verdaut werden müssen, gehört zu den Erfahrungen aller, die jemals an derartigen Einsätzen teilgenommen haben. Nicht immer hat man dabei die Zeit, welche eine Synchronisation mit dem jeweiligen Ort und den Menschen ringsum erfordern würde.
Bereits bei der ersten Begegnung mit einer Krankheit wie Noma führt einen die Frage, wie es für diese Kinder überhaupt dazu kommen konnte, hinein in die großen apokalyptischen Themencluster unserer Zeit: explosionshaftes Bevölkerungswachstum, dramatische Unterernährung und Wasserknappheit, immernoch horrende Kinder- und Müttersterblichkeit beimangelnder medizinischer Versorgung, politischer Instabilität und einem Umsichgreifen von Gewalt und Terror – auch und vorallem gegen Kinder, Frauen, Schutzlose.
Unter diesem Aspekt schiebt sich dann allmählich ein Gewahrsein eines „Jetzt-dran-Seins“, vielleicht auch einer gewissen Dringlichkeit in den persönlichen Zeit- und Gegenwartsbegriff so manches Einsatzleistenden. Ein Umstand, der vorallem bei jahrelang hoher Einsatzfrequenz natürlich auch auf alle nahe- und nächstliegenden Bereiche einwirkt: Partnerschaftszeit, Kinder- und Familienzeit, Dienstzeiten, Ordinationszeiten, Urlaubszeit, Zeit für Gespräche und umzurRuhe zu kommen – ein Projekt des Möglichmachens, des Managements und der Abstimmung und vorallem ein Toleranzprojekt für den Einzelnen und sein ganzes Umfeld.
Niemand kann an zwei Orten gleichzeitig sein, zwei Patienten gleichzeitig operieren ...
Bei hochkomplexen, in der Behandlung von Nomapatient:innen tagesfüllenden Eingriffen bedeutet das angesichtsdes schier unbewältigbaren Patientenaufkommens logischerweise die Heran-, Aus- und Weiterbildung von lokalen Fachkräften auf allen Ebenen. Wie wichtig,nachhaltig und zentral das Erkennen und Fördern von Potenzialträger:innen in allen Berufsgruppen im Zusammenhang mit der Behandlung von Nomapatient:innen ist, lässt sich anhand der hier geschilderten langjährigen Arbeit aller im Verbund und in der Zusammenarbeit mit der deutschen Organisation Hilfsaktion Noma e.V. Tätigen erkennen. Über Jahrzehnte haben sich hier die Schlüsselpersönlichkeiten der Heranbildung, Weiterentwicklung und Weitergabe in Pflege, Organisation, Anästhesie und Chrirurgie und vielen anderen damit eng verwobenen Bereichen gewidmet. Gerade angesichts von Pandemien und politischen Erschütterungen ist der Wert, selbstständigtätigsein zu können,an den über so viele Jahre mit Hilfevon außen verstärkten lokalen Teams sichtbar geworden.
Nichtzuletzt bleibt für niemanden, der über Jahre sein Wissen, Können und Wollen in den Fluss humanitären Tätigseins einspeist, die Zeit stehen. An dieser Stelle möchte ich eine intensive persönliche Erfahrung als Nomaoperateur teilen: wie wesentlich esfür das Gelingen ist, nicht allein zu sein, sondern sich in einem Team zu wissen, Teil eines Teams zu sein, welches dieses Bewusstsein teilt und wertschätzt.
Vielleicht erwachsen erst aus dieser Erfahrung der generative Impuls zu Vermittlung, Verbreitungund Weitergabe von Wissen, die Kraft, Bereitschaft und Ausdauer zur Anleitung in selbstständigem Operieren, zur Begleitung von IndikationbisKomplikation und letztlich dazu,übergeben, beiseite- und abtreten zu können.
Eine (vorläufige) persönliche Zusammenfassung
Die hier vorgestellte Form humanitärer plastischer Chirurgie und langjähriger Entwicklungsarbeit ereignet sich im Liminal Space, einem vielfältigen Raum der Grenz- und Übergangszonen. Dieser eröffnet für die behandelten Kinder einen Raum der Zuwendung, der umfassenden Wiederherstellung und der größtmöglichen Genesung von den Folgen der Krankheit Noma. Für das gesamte multiprofessionelle Team vor Ort wie auch für die von außen anleitend und assistierend mitwirkenden medizinischen Fachkräfte eröffnet dieser Raum einen sinnstiftenden Aufgaben-, Entwicklungs- und Erfahrungsbereich an einem Punkt der Not-Wende für die ohne dieses Engagement dem Elend ausgelieferten Patient:innen.
Aus der persönlichen Erfahrung des Autors erscheint beim Betreten dieses Raumes immerwieder die Gangart„stop – look – go“ ratsam. Angesichts großer Bedarfs- und Bedürftigkeitsfelder, des großen Vorbereitungsaufwandes und all des Das-Beste-Wollens im humanitären Kontext scheint diese Vorgehensweise, an deren Beginn ein Moment des Innehaltens und der Orientierung steht, einen naheliegenden,aber gefährlichen Aktionismus auszubalancieren.
Zu den größten „Unlearnings“ über die Jahre zählt für den Autor wohl die Überwindung von im humanitären Kontext meist (ab)wertenden Begriffspaaren wie „oben & unten“ sowie „geben & nehmen“. Diese vielleicht für mancheMenschen banalen Unarten halten einen Zustand des Getrenntseins (in zwei Seiten) aufrecht. Durch deren Überwindung könnte vielleicht ja gerade das Fach der plastischen Chirurgie im Sinne einer Wiederherstellung(schirurgie) von tragfähigen Verbindungen und Beziehungen, über welche Ausbildung, Behandlung und letztlich „Heilung“ stattfinden können, eine naheliegende und zugleich neue Dimension erfahren.
Abschließend soll hier noch ein persönlicher Gedanke geteilt werden, wie er über die Jahre in diesem humanitären Raum erfahrbar wurde. Dieser Gedanke ist anhand vieler persönlicher Erlebnisse zu einer wiederkehrenden Erfahrung, vielleicht zu einer Erkenntnis geworden, die wohl auch umfasst, was viele von uns als Lernende, Langzeit-Auszubildende am Beispiel von (guten) Lehrenden, Mentor:innen, Orientierungs- und Ratgebenden und vielleicht sowohl bei den eigenen Elternwie auchselbst als Eltern erlebt haben: das Erfahren, Stiften und Am-Leben-Erhalten von Präsenz – unabhängig und ganz besonders losgelöst von räumlichem und persönlichem Vor-Ort-Sein.
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