
«Das ausgehende Jahrtausend war sehr prägend für die MS-Forschung»
Unser Gesprächspartner:
Prof. Dr. med. Andrew Chan
Chefarzt, Leiter Universitäres Ambulantes Neurozentrum
Universitätsklinik für Neurologie
Inselspital, Bern
E-Mail: andrew.chan@insel.ch
Das Interview führte Dr. med. Felicitas Witte
Vielen Dank für Ihr Interesse!
Einige Inhalte sind aufgrund rechtlicher Bestimmungen nur für registrierte Nutzer bzw. medizinisches Fachpersonal zugänglich.
Sie sind bereits registriert?
Loggen Sie sich mit Ihrem Universimed-Benutzerkonto ein:
Sie sind noch nicht registriert?
Registrieren Sie sich jetzt kostenlos auf universimed.com und erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln, bewerten Sie Inhalte und speichern Sie interessante Beiträge in Ihrem persönlichen Bereich
zum späteren Lesen. Ihre Registrierung ist für alle Unversimed-Portale gültig. (inkl. allgemeineplus.at & med-Diplom.at)
In kaum einem Bereich der Neurologie wurden in den vergangenen 30 Jahren so viele Medikamente entwickelt wie gegen Multiple Sklerose (MS). Die Lebensqualität der Patient:innen hat sich dadurch sehr verbessert. Trotzdem gibt es Patient:innen, denen die Medikamente nicht helfen. Vor allem für die chronisch progrediente Form gibt es zu wenige Präparate. Wir sprachen mit Prof. Andrew Chan vom Inselspital in Bern über bisherige Erfolge, wie man individualisiert behandelt und was wir in naher Zukunft erwarten können.
Herr Professor Chan, warum haben Sie sich auf Multiple Sklerose spezialisiert?
A. Chan: MS beginnt meist im jungen Erwachsenenalter. Als ich Mitte der 1990er-Jahre in der Neurologie anfing, war ich selbst in diesem Alter. Gleichzeitig wurden die ersten evidenzbasierten verlaufsmodifizierenden Substanzen zugelassen. Schon im Studium haben mich Pathomechanismen und zugrunde liegende molekulare und zelluläre Veränderungen fasziniert. Es war beeindruckend, zu sehen, wie diese lebensverändernde Erkrankung immer besser behandelbar wurde. Das ausgehende Jahrtausend war sehr prägend für die MS-Forschung.
Warum?
A. Chan: Die Magnetresonanztomografie (MRT) hielt Einzug in die Routineversorgung. Neue Studiendesigns, jetzt auch mit MRT-Endpunkten, konnten erstmals den Effekt von Immuntherapien auf den Krankheitsverlauf nach höchsten Qualitätskriterien demonstrieren. Daneben wurde die Translation grundlagenwissenschaftlicher Ergebnisse in die Klinik immer erfolgreicher.
Wie sah damals die Standardtherapie aus?
A Chan: Es gab in den 1990er-Jahren im Wesentlichen zwei injizierbare Substanzklassen zur Krankheitsmodifikation, nämlich Interferon beta und Glatirameracetat. Mittlerweile ist eine Vielzahl verschiedener Präparate zugelassen: mit unterschiedlichen Wirk- und Nebenwirkungsprofilen, Applikationsarten und -intervallen sowie spezifischen Wirkmechanismen. Die Entschlüsselung von wesentlichen Pathomechanismen als Therapieziele ist für mich der entscheidende Fortschritt der Forschung. Leider gilt dies bisher vorwiegend für schubförmige Verläufe. Im Bereich der Mechanismen, die der Krankheitsprogression zugrunde liegen, haben wir zwar erste Schritte gemacht, die klinischen Ergebnisse sind aber weiterhin unbefriedigend.
Je mehr MS-Medikamente es gibt, desto komplizierter scheint die Therapie. Wie findet man das passende Präparat?
A. Chan: Die unterschiedlichen Medikamente erleichtern uns die Individualisierung, insbesondere auch, was die Präferenzen der MS-Betroffenen angeht. Der erste Schritt ist, Nutzen gegen Risiko abzuwägen. Dazu gehört, dass man die Aktivität der Erkrankung einschätzt und wie aggressiv sie voranschreitet. Hier zeigt sich, wie wichtig ein individuelles Vorgehen ist: Ein Kribbeln im Kleinfinger mag für eine Pianistin deutlich belastender sein als für andere Personen. Auch Alter und Vorerkrankungen spielen eine wesentliche Rolle. Davon ausgehend kommen im Gespräch weitere Faktoren zur Sprache. Zum Beispiel, welche Medikation der Patient oder die Patientin am konsequentesten nehmen würde oder wie die Lebensqualität beeinflusst wird. Eine möglichst frühzeitige und effiziente Therapie ist entscheidend. Das konkrete Präparat rückt etwas in den Hintergrund.
Der Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit in Deutschland kritisierte, es gebe kaum Daten dazu, welche Immunmodulatoren besser seien.1 Was sagen Sie dazu?
A. Chan: Es liegt ein bisschen in der Natur der Sache, dass wir angesichts der vielen Medikamente, die in den letzten drei Jahrzehnten zugelassen worden sind, wenige vergleichende Studien haben. Zwar werden Zulassungsstudien bei der schubförmigen MS mittlerweile nicht mehr placebokontrolliert durchgeführt, aber ein Vergleich der unterschiedlichen Substanzen untereinander bräuchte ohnehin ein anderes Studiendesign. Diese Lücke könnten registerbasierte Studien schliessen. Wie immer stellt sich aber die Finanzierungsfrage. Die Kosten kann man nicht einem einzigen Stakeholder allein aufbürden. Gesetzliche Vorgaben zur Finanzierung wären ein grosser Fortschritt.
Vor ein paar Jahren zeigte die Gruppe um Hemmer et al., dass viele der Beschwerden, die man für ein Prodromalstadium gehalten hat, in Wirklichkeit ein Zeichen dafür sind, dass die Krankheit schon aktiv ist.2 Nehmen Neurolog:innen die Symptome nicht ernst?
A. Chan: Diese und andere Arbeiten auf diesem Gebiet sind retrospektiv, sodass klare Schlussfolgerungen für den Alltag kritisch bedacht werden müssen. Ich glaube, dass die Ergebnisse für unser Verständnis auch der frühesten Phasen der MS relevant sind. Für den Alltag bedeutet es, dass man suggestive Symptome ernst nimmt und weiter abklärt. Allerdings sind einige der Symptome unspezifisch. Hier sollten wir unseren klinischen Verstand und Augenmass walten lassen, um unnötige Diagnostik und Verunsicherung zu vermeiden.
Welche Änderungen in der letzten AWMF-Leitlinie von 20213 fanden Sie am wichtigsten?
A. Chan: Während die AWMF-Leitlinie in vielen Fällen einen schrittweise eskalierenden Therapieansatz beschreibt, hat sich eine andere Gruppe, nämlich die MS-Therapie-Konsensusgruppe, mit einem Ansatz positioniert, in dem abhängig von der zugrunde liegenden Aktivität auch rasch hochaktive Medikamente eingesetzt werden können. Im Kern geht es auch hier wieder um eine Individualisierung und die zugrunde liegende Evidenz. Daher sind diese Diskussion und Kontroverse an sich für mich zu begrüssen. Ich persönlich halte den Ansatz der MS-Therapie-Konsensusgruppe, zu der ich auch beigetragen habe, für zielführend.
Für die sekundär progrediente MS (SPMS) und die primär progrediente MS (PPMS) haben wir zu wenige Wirkstoffe – nämlich für SPMS nur Interferone, Siponimod, Mitoxantron und für PPMS nur Ocrelizumab – und für die schubförmig remittierende MS (RRMS) quasi schon zu viele, nämlich 16. Was sagen Sie zu diesem Ungleichgewicht?
A. Chan: Wir haben im Bereich der chronisch progredienten MS weiterhin einen «unmet need». Ich glaube aber, dass die Erkenntnisse der letzten Jahre zu den zugrunde liegenden Mechanismen wie der im ZNS sequestrierten, chronischen «schwelenden» Entzündung rasch zu neuen therapeutischen Entwicklungen führen werden. Eine Substanz aus der Gruppe der BTK-Inhibitoren ist im Zulassungsverfahren für die SPMS ohne überlagernde Schübe. Ist die Entwicklung ähnlich dynamisch wie im schubförmigen Bereich, sehe ich vorsichtig optimistisch in die Zukunft. BTK steht für Bruton-Tyrosin-Kinase. Sie wird vor allem in B-Zellen und myeloiden Zellen wie der Mikroglia exprimiert.
16 Präparate für die RRMS kann man dagegen als Überversorgung sehen.
A. Chan: Gegen den Begriff der «Überversorgung» sträube ich mich. In den 1990er-Jahren waren wir mit Substanzen zufrieden, die im Schnitt eine 30-prozentige Schubratenreduktion erreichen konnten. Zum Glück sind unsere Ansprüche gestiegen. Das Therapieziel sollte heutzutage sein, die Patient:innen ohne Nebenwirkungen stabil zu halten. Dies gelingt mit den uns zur Verfügung stehenden Substanzen immer besser, und es ist gut, dass wir so viele verschiedene Präparate zur Auswahl haben. Doch es gibt immer noch Patient:innen, die nicht optimal behandelt sind. Hier dürfen wir hoffnungsvolle Entwicklungen – etwa mit CAR-T-Zellen – nicht unterbinden wegen eines vermeintlichen Überangebots an Medikamenten.
Werden uns Biomarker demnächst sagen, wie man die Therapie besser anpassen kann?
A. Chan: Obwohl ich früher zu denen gehörte, die sagten: «Ich behandle keine Bilder», ist die MRT aus der klinischen Routine nicht mehr wegzudenken und beeinflusst wesentlich Therapieentscheidungen. Biomarker wie das «serum neurofilament light» (sNFL) oder das «serum glial fibrillary acidic protein» (sGFAP) zeigen auf Populationsebene interessante Assoziationen mit fokaler Krankheitsaktivität beziehungsweise mit der Progression. Ob und wie dies aber im klinischen Alltag einsetzbar wird, muss sich erst noch zeigen. Entsprechende Studien, auch in der Schweiz, untersuchen dies gerade.
Kann jeder niedergelassene Arzt bzw. Ärztin Patient:innen mit MS behandeln?
A. Chan: Ganz klar: ja! MS-Betroffene brauchen ein gutes Netzwerk von wohnortnahen, rasch ansprechbaren Therapeut:innen. Aber da die medikamentöse Therapie zunehmend komplexer wird, braucht es ebenfalls spezialisierte Zentren. Ich plädiere für ein enges Netzwerk, in dem jeder Partner seine spezifischen Stärken ausspielen kann. Wir als universitäres Zentrum können gut mit innovativen Substanzen umgehen und komplexe Fragen interdisziplinär klären, etwa MS bei einer Risikoschwangerschaft. Allerdings fällt es uns aufgrund der schieren Grösse häufig schwer, so rasch auf Anfragen zu reagieren wie die niedergelassenen Neurolog:innen oder Hausärzt:innen «nebenan». Diese kennen die Patient:innen meist länger und können oftmals auch eine kontinuierlichere Betreuung anbieten. Ich sehe, dass die jüngere Generation von Ärzt:innen der übergreifenden Zusammenarbeit sehr offen gegenübersteht. Neuere Wege der Kommunikation und des Datenaustausches werden dies hoffentlich weiter erleichtern.
Frustriert es Sie, dass wir MS bisher nur kontrollieren und nicht heilen können?
A. Chan: Bisher war der Fortschritt im Verständnis der Erkrankung so hoch, dass ich zunächst einmal erleichtert war über den für die Betroffenen fassbaren Fortschritt. Eine Stabilisierung der Krankheit ist schon ein wesentlicher Erfolg. Aber ja, es gibt einige Fälle, wo wir trotz höchster Bemühungen letztlich die Waffen strecken müssen. Und das frustriert mich.
Was wünschen Sie sich für die nahe Zukunft?
A. Chan: Dass wir Pathogenese, Pathomechanismen und Verlauf der MS besser verstehen und darauf aufbauend neue, wirksamere Medikamente entwickeln. Die Erkrankung tritt meist im jungen Erwachsenenalter auf, mit all ihren Implikationen auf Beruf, Partnerschaft, Familie und soziale Kontakte. Einige Freunde und Freundinnen von mir sind an MS erkrankt. Den Betroffenen und ihren Familien wünsche ich eine grosse Portion Optimismus und einen langen Atem. Von der Gesellschaft erhoffe ich mir, dass MS als chronische, aber oftmals gut behandelbare Erkrankung wahrgenommen wird und entsprechend ihr Stigma zunehmend verliert. Dies war im Übrigen auch meine Hauptmotivation für dieses Interview.
Vielen Dank für das Gespräch!
Literatur:
1 https://www.aerzteblatt.de/news/iqwig-fordert-mehr-forschung-zur-wirkung-von-immunmodulatoren-bei-multipler-sklerose-334ba2b0-6e10-4fbf-8e9b-68bb30496d0c 2 Gasperi C et al.: Systematic assessment of medical diagnoses preceding the first diagnosis of multiple sclerosis. Neurology 2021; 96(24): e2977-e88 3 Hemmer B et al.: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/030-050
Das könnte Sie auch interessieren:
Schwelend-fortschreitende Multiple Sklerose
Dank innovativer immunmodulierender und krankheitsmodifizierender Medikamente sind Schübe heute oftmals vermeidbar und Patient:innen, die heute die Diagnose MS erhalten, haben eine ...
Parkinson: Früherkennung – der nächste Meilenstein für Forschung und Therapie
Parkinson ist die zweithäufigste neurodegenerative Erkrankung. Schätzungsweise 30000 Menschen sind in der Schweiz betroffen. Dr. med. Ines Debove ist stellvertetende Leiterin des ...
Therapie der Epilepsien: aktueller Stand und zukünftige Perspektiven
Leitliniengerechte medikamentöse Therapie unter Berücksichtigung von Epilepsiesyndrom, Alter, Geschlecht und Komorbiditäten stellt den Goldstandard der Epilepsiebehandlung dar. Durch ...